Als eine Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe am 11. März 2011 in der japanischen Anlage Fukushima Daiichi wurden auf verschiedenen nationalen und internationalen Ebenen Überprüfungsprozesse in Gang gesetzt.
Auf europäischer Ebene wird der sogenannte europäische Stresstest durchführt. Der europäische Stresstest betrachtet als Schwerpunktthemen die Auswirkungen von externen Ereignissen (Erdbeben, Überflutung und ähnliches), Ausfälle von Sicherheitsfunktionen sowie Maßnahmen und Vorgehen bei schweren Unfällen.
In Deutschland erfolgte als Reaktion auf den Reaktorunfall in Japan eine länderübergreifende Sicherheitsüberprüfung federführend durch die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK). Die Reaktor-Sicherheitskommission hat sich insbesondere mit der Frage beschäftigt, welche Sicherheitsreserven die einzelnen Anlagen haben, wenn es Einwirkungen von außen gibt, die über die bisherigen Annahmen hinausgehen.
Für das Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg ist – neben der Sicherheit der Kernkraftwerke im Land – insbesondere die Sicherheit der grenznahen Anlagen von Interesse, da sich die Auswirkungen eines Reaktorunfalls auf Baden-Württemberg erstrecken. Im Auftrag des Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg hat das Öko-Institut daher ein Gutachten erstellt, das für die grenznahen Kernkraftwerke Beznau (Schweiz) und Fessenheim (Frankreich) eine Bewertung der Ergebnisse des europäischen Stresstests vornimmt.
Die Bewertung erfolgte auf der Basis von Unterlagen, die beim europäischen Stresstest vorgelegt wurden. Beim europäischen Stresstest wurden zwar der Überprüfungsumfang und die Randbedingungen vorgegeben, jedoch keine Bewertungskriterien festgelegt. Daher hat das Öko-Institut bei seiner Bewertung die Kriterien herangezogen, die bei der Sicherheitsüberprüfung der deutschen Kernkraftwerke durch die Reaktor-Sicherheitskommission zur Anwendung kamen.
Das Gutachten stellt im Vergleich zu den deutschen Kernkraftwerken Sicherheitsdefizite der grenznahen Anlagen fest. Im Folgenden werden die wesentlichen Punkte aufgeführt:
- Die Auslegung des Kernkraftwerks Fessenheim gegen Erdbeben entspricht etwa einem Erdbeben mit einer Überschreitungs-Wahrscheinlichkeit von 10-4 pro Jahr (10.000 jährliches Ereignis). Demgegenüber weisen die deutschen Anlagen eine Grundauslegung gegen ein Erdbeben mit einer Überschreitungs-Wahrscheinlichkeit von 10-5 pro Jahr auf (100.000 jährliches Ereignis). Damit weist die Anlage Fessenheim im Vergleich zu den deutschen Anlagen eine geringere Sicherheit auf.
- Für die deutschen Anlagen hat die Reaktor-Sicherheitskommission (vorbehaltlich des Nachweises) das Potenzial für Reserven in Höhe einer Erdbebenintensitätsstufe festgestellt. Die für die Anlage Fessenheim benannten Reserven sind deutlich geringer.
- Die ausgewiesenen Schutzhöhen der Anlage Fessenheim bei Überflutungs-Ereignissen sind gegenüber deutschen Anlagen als eher gering einzustufen.
- Der Betreiber hat ein Überflutungs-Szenario (mit einem Anstieg der Abflussmenge von 30 Prozent) analysiert, dessen Wiederkehrperiode er mit eins in hunderttausend bis zu eins in einer Million Jahren abschätzt. In diesem Fall würde das Anlagengelände überflutet und es ist ein Verlust zentraler sicherheitstechnisch wichtiger Einrichtungen (vollständiger Ausfall der Kühlwasserversorgung, der externen Energieversorgung sowie der gesamten elektrischen Energieversorgung) möglich.
- Durch die Positionierung der sicherheitstechnischen Systeme am Standort Fessenheim auf einem Niveau weit unterhalb des Rheinseitenkanals, besteht eine potenzielle Überflutungsgefahr für das gesamte Anlagengelände. Die von der französischen Aufsichtsbehörde ASN geforderten Nachweise zur Erdbebenfestigkeit der Deiche am Standort einschließlich einer Analyse möglicher Auswirkungen bei einem Versagen der Deiche weisen explizit auf diese potenzielle Schwachstelle hin.
- Die Brennelement-Lagerbecken sind in der Anlage Fessenheim in einem separaten Gebäude untergebracht, in den noch im Leistungsbetrieb befindlichen deutschen Druckwasserreaktoren hingegen innerhalb des Containments im Reaktorgebäude. Dies gewährleistet einen zusätzlichen Schutz gegen mechanische Einwirkungen von außen und bessere Spaltproduktrückhaltung im Falle von Brennelementschäden. Das Gutachten stuft die Unterbringung der Lagerbecken im Reaktorgebäude innerhalb des Containments als sicherheitstechnischen Vorteil der deutschen Anlagen ein.
- Die Notstromversorgung in Fessenheim ist im Falle eines Einzelfehlers noch gewährleistet. Sie lässt jedoch keine gleichzeitige Instandhaltung zu, wie dies in deutschen Anlagen der Fall ist. Die deutschen Kernkraftwerke weisen daher einen höheren Redundanzgrad (mehrfaches Vorhandensein funktional gleicher oder vergleichbarer Einrichtungen) der Notstromversorgung auf.
- Der Betreiber gibt die nachgewiesenen Kapazitäten der Batterien mit einer Stunde an. Dies ist im Falle eines Station-Blackouts (Ausfall auch der Notstromversorgung) relevant. Diese Kapazitäten sind geringer als die für deutsche Anlagen nachgewiesenen Kapazitäten von mindestens zwei Stunden.
- Für die Nachkühlkette, die zur Gebäude- und Komponentenkühlung sowie zur Kühlung der Anlage im Stillstandsbetrieb erforderlich ist, steht in Fessenheim keine diversitäre Wärmesenke zur Verfügung. Demgegenüber sind insbesondere für die in Baden-Württemberg noch in Betrieb befindlichen Anlagen Kernkraftwerk Neckarwestheim II und Kernkraftwerk Philippsburg 2 zusätzliche diversitäre und redundante Nebenkühlwasserstränge vorhanden. Erst mit der Umsetzung der geplanten Verbesserungsmaßnahme („Hardened Safety Core") stünde eine diversitäre Wärmesenke für die Abfuhr der Nachzerfallswärme zur Verfügung.
- Hinsichtlich der Sicherstellung der sekundärseitigen Wärmeabfuhr sowie einer primärseitigen Einspeisung und Aufborierung unter den Bedingungen eines hohen Drucks im Primärkreislauf weist die Anlage Fessenheim eine erheblich geringere Sicherheit mit Blick auf das Konzept der gestaffelten Sicherheitsebenen auf als die deutschen Druckwasserreaktoren.
- Die Stränge des Notspeisesystems beziehungsweise des Not- und Nachkühlsystems (diese Stränge dienen vor allem der Wärmeabfuhr bei Störfällen) greifen jeweils auf einen einzigen Vorratsbehälter zurück. Diese Auslegung entspricht nicht dem Sicherheitsstatus deutscher Anlagen.
- Im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung der Reaktor-Sicherheitskommission wurden für die deutschen Kernkraftwerke auch zivilisatorische Einwirkungen wie ein Flugzeugabsturz auf die Anlage analysiert. Im Rahmen des europäischen Stresstests der Anlage Fessenheim wurden solche Szenarien nicht betrachtet. Speziell die Abhängigkeit der zentral wichtigen Sicherheitsfunktionen der sekundärseitigen Wärmeabfuhr und der primärseitigen Kühlmittelergänzung von jeweils nur einem Vorratsbehälter pro Block wird insoweit als eine sicherheitstechnisch besonders relevante Schwachstelle gewertet.
- Die Grundauslegung der Anlage Beznau gegen Erdbeben entspricht nicht dem Sicherheitsstatus deutscher Anlagen, da nach dem der Auslegung zugrunde gelegten Erdbeben (Sicherheitserdbeben) eine geringere Zahl von Redundanzen zur Verfügung steht.
- Unter der Voraussetzung, dass das von der Reaktor-Sicherheitskommission festgestellte Robustheits-Potenzial der deutschen Anlagen von einer Erdbebenintensitätsstufe nachgewiesen werden kann, sind die für die Anlage Beznau ausgewiesenen Reserven etwas geringer als diejenigen der deutschen Anlagen. Auch nach Realisierung der geplanten Verbesserungsmaßnahme AUTANOVE (autarke Notstromversorgung) wird zwar zusätzlich ein weiterer erdbebensicherer Strang zur Verfügung stehen, eine blockweise Beherrschung von Einzelfehler und Instandhaltungsfall – wie in den deutschen Anlagen -– ergibt sich allerdings auch daraus noch nicht.
- Die derzeit zur Lagerbeckenkühlung im Kernkraftwerk Beznau vorgesehenen Systeme stehen bei einem Sicherheitserdbeben oder einer externen Überflutung nicht auslegungsgemäß zur Verfügung. Demgegenüber bleiben die in den noch im Leistungsbetrieb befindlichen deutschen Druckwasserreaktoren installierten Beckenkühlsysteme bei einer externen Überflutung vollumfänglich verfügbar. Nach Realisierung der von der Schweizer Aufsichtsbehörde ENSI verfügten Nachrüstungen allerdings wären die derzeit bestehenden Defizite im Hinblick auf die Lagerbeckenkühlung behoben.
- Die Lagerbecken sind im Kernkraftwerk Beznau – ähnlich wie in Fessenheim – in einem separaten Gebäude untergebracht, in den noch im Leistungsbetrieb befindlichen deutschen Druckwasserreaktoren hingegen innerhalb des Containments im Reaktorgebäude. Das Gutachten stuft die Unterbringung der Lagerbecken innerhalb des Containments als sicherheitstechnischen Vorteil der deutschen Anlagen ein.
- Die Zahl der im Kernkraftwerk Beznau verfügbaren Stränge zur elektrischen Energieversorgung vermindert sich bei bestimmten übergreifenden Einwirkungen von Innen und Außen. So verbleibt bei einer Zerstörung des Ostteils des Maschinenhauses oder einem Sicherheitserdbeben pro Block nur das Notstand-Notstromdieselaggregat zur Notstromversorgung der Anlage. Die Auslegung der noch im Leistungsbetrieb befindlichen deutschen Druckwasserreaktoren ist diesbezüglich sicherheitstechnisch deutlich günstiger, da insgesamt acht gegen Erdbeben und externe Überflutung ausgelegte Notstromdieselaggregate verfügbar bleiben. Weiterhin sind in den deutschen Anlagen im Maschinenhaus, das eine größere Zahl hochenergetischer Komponenten enthält, keine relevanten Anlagen zur Notstromversorgung aufgestellt. Dies wird als sicherheitstechnischer Vorteil gewertet.
- Das Nebenkühlwassersystem des Kernkraftwerks Beznau mit Wärmeabfuhr an die Aare weist keine durchgehende räumliche Trennung auf und steht bei Einwirkungen von außen (Erdbeben, externe Überflutung) nicht gesichert zur Verfügung.
- Hinsichtlich der Vermaschung der Redundanzen und damit auch der Beherrschbarkeit eines passiven Einzelfehlers ist der pro Block nur einmal vorhandene Borwasservorratstank (BOTA) von besonderer Relevanz. Eine Unverfügbarkeit des Borwasservorratstanks würde im Kernkraftwerk Beznau zu einem Verlust des Wasserinventars führen, das für die Sperrwasserversorgung der Reaktorhauptpumpen (Sperrwasser dient zur Dichtung von Pumpen), die Ergänzung von Kühlmittelverlusten oder die Einstellung des Rezirkulationsbetriebs (Betriebsmodus zur Kernkühlung bei einem Leck am Kühlsystem) erforderlich ist.
- Im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung der Reaktor-Sicherheitskommission wurden für die deutschen Kernkraftwerke auch zivilisatorische Einwirkungen wie ein Flugzeugabsturz auf die Anlage analysiert. Im Rahmen des europäischen Stresstests der Anlage Beznau wurden solche Szenarien nicht betrachtet. Es liegen daher keine expliziten Aussagen zur Widerstandsfähigkeit der Systeme, Strukturen und Komponenten der Anlage Beznau gegen derartige Einwirkungen vor. Die Abhängigkeit der zentral wichtigen Sicherheitsfunktionen der Sperrwasserversorgung der Reaktorhauptpumpen, der Ergänzung von Kühlmittelverlusten (zum Beispiel bei unterstellten Leckagen an den Reaktorhauptpumpen) oder der Einstellung des Rezirkulationsbetriebs von nur einem Vorratsbehälter pro Block wird vor diesem Hintergrund als eine sicherheitstechnisch besonders relevante Schwachstelle gewertet.