Wenn Terminkalender übervoll sind, muss man manchmal andere Wege gehen, um eine Umweltministerin zu interviewen. Deshalb treffe ich Thekla Walker im Landschaftsschutzgebiet Neuweiher bei Meersburg, auch wenn wir dort über den Nationalpark Schwarzwald sprechen werden. Nach dem Besuch des Max-Planck-Instituts in Radolfzell und der Besichtigung eines Elektroschiffs der Bodensee Schifffahrtsgesellschaft bin ich ihr dritter Termin an diesem bis dato heißesten Tag des Jahres. Beide empfinden wir die kleine Runde zum Weiher als willkommene Erfrischung. Wenn sie in Stuttgart eine Auszeit im Grünen suche, sei der Glemswald Richtung Bärenschlössle ihre erste Wahl, erzählt sie. Sie ist fasziniert von dessen Jahrhunderte alten Eichen und Buchen – genau wie von der Großvatertanne beim Wilden See, ihrem Lieblingsort im Nationalpark Schwarzwald.
Nationalpark Schwarzwald: eine wunderbare Erfolgsgeschichte
Was ihr außer der Großvatertanne zuallererst zu jenem einfiele, frage ich. „Dass es eine wunderbare Erfolgsgeschichte ist“, sagt sie ohne Zögern. Seine konfliktreichen Anfänge hätte sie noch als Landesvorsitzende der Bündnis 90/Die Grünen erlebt. Jetzt, als Ministerin, freue sie sich über die hohe Zustimmung, die er zwischenzeitlich genieße. Seit gut drei Jahren ist Thekla Walker Mitglied im Kabinett Kretschmann und genauso lange auch im Beirat des Nationalparks. Dort erlebe sie ein konstruktives Miteinander.
Ebenso in der ganzen Nationalparkregion. Das sei auch bei den Gesprächen um die räumliche Erweiterung spürbar. „Inzwischen hat wohl jeder den Mehrwert des Großschutzgebietes für Mensch wie Natur, für Tourismus wie Naturschutz erkannt“, schlussfolgert sie.
Einige der Arten, die sich in den vergangenen zehn Jahren im Nationalpark neu angesiedelt haben, hätte sie vor kurzem selbst entdecken dürfen. Darunter Engelshaar-Flechte und Korallen-Kugelträger, sogar die Zitronengelbe Tramete.
Walker ist begeistert, wie schnell sich diese Zeigerarten ansiedeln. „Wissen Sie, wir haben tolle Flächen im Land mit schützenswerter Natur, aber ein solch großes Areal unter Schutz zu stellen und sich selbst entwickeln zu lassen, das ist schon besonders und großartig“, schwärmt sie. Wir laufen schneller, wollen trotz Panoramablick auf Meersburg und Bodensee ganz in den schützenden Wald eintauchen.
Den flankieren wir bislang nur, doch das spendet zu wenig Schatten bei 37 Grad Celsius am späten Nachmittag.
Dass solche Temperaturen mehr und mehr zur Normalität werden, besorgt die zweifache Mutter. Umso wichtiger seien Oasen wie der Neuweiher oder der Nationalpark im Schwarzwald. Man dürfe nicht glauben, dass ein Projekt dieser Größe ausreichen werde, stellt sie klar: „Wir müssen Biotope vernetzen, weitere Flächen ausweisen und uns um bestehende Gebiete kümmern, von denen wir wissen, dass sie wertvoll sind.“ Geschehen wird das im Sinne des Nature Restoration Law, einer Verordnung der Europäischen Union. Sie verpflichtet alle Mitgliedstaaten dazu, ihre Natur nicht nur zu schützen, sondern wieder in einen guten ökologischen Zustand zurückzuführen. „Das ist ein verbindliches Kernelement des sogenannten Green Deal und der Biodiversitätsstrategie“, erklärt sie.
Natürlich sei auch die Landnutzung wichtig, keine Frage, doch die Natur dürfe dabei nicht zu kurz kommen, nicht verletzt oder gar zerstört werden, appelliert die 55-Jährige. Es sei also kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
Auch die Forschung spiele eine entscheidende Rolle. Nur in Großschutzgebieten könne man beobachten, wie sich die Natur unter den Bedingungen des Klimawandels entwickele.
Bannwälder seien nicht groß genug, als Lebensraum für bestimmte Arten seien sie auch zu klein, gibt sie zu bedenken. Zwischenzeitlich sind wir am Ufer des Neuweiher angekommen und lesen interessiert, was hier geschützt wird und was erlaubt ist. Im Mittelalter diente er als Wasserspeicher zur Flutung des Stadtgrabens in Meersburg.
Heute ist er Heimat vieler Fische – von Aal und Barsch über Moderlieschen und Rotauge bis Wildkarpfen und Zander. Flechten wie Wildorchideen wachsen an seiner Uferzone. Wir lesen vom Engagement des örtlichen Anglervereins, von Bachpatenschaften. Walker freut sich darüber.
Ohne bürgerschaftliches Engagement würde auch Naturschutz nicht funktionieren, weiß die Umweltministerin. Wie wissbegierig und reflektiert die Menschen im Beteiligungsprozess zur inhaltlichen Weiterentwicklung des Nationalparks mitgearbeitet hätten, habe sie sehr bewegt.
„Solche Abläufe sind nicht nur für den Naturschutz wichtig, sondern auch für unsere Demokratie“, weiß die Politikerin. Doch zur Wahrheit zähle eben auch, dass nicht alle mit der Erweiterung glücklich seien. „Diese Menschen werden wir ernst nehmen und alle Schritte der Weiterentwicklung gut mit ihnen abstimmen“, verspricht sie.
Spaziergänger mit Hund passieren uns, ein paar Minuten lang hören wir nur den Kies unter unseren Sohlen und blicken in wild wucherndes Grün entlang des Wegs.
„Schauen Sie, Urwald gibt es nicht nur in fernen Ländern“, hebt Walker die Stille auf, „und auch wir müssen uns unserer Verantwortung im Naturschutz stellen, nicht zuletzt unserer Kinder und Jugendlichen wegen.“
Der Nationalpark ist ein auf Jahrhunderte angelegtes Projekt
Die studierte Naturpädagogin weiß sehr genau, wie wichtig Naturerfahrung für die Jüngsten unserer Gesellschaft ist. So bekommen sie ein Gefühl für deren Abläufe, begreifen den Wald als gesamtes Ökosystem und lernen, wie alles zusammenhängt. Der Nationalpark veranschauliche das wunderbar, wirbt Walker. Dort könne man den Lebenszyklus eines Baumes vom Keimling bis zum Totholz beobachten.
Nicht wie in einem Wirtschaftswald, in dem sie nur das Jugendalter erreichen dürfen. Doch wo Bäume noch stehen, sei auch Naherholung, sagt sie. Und die Forstwirtschaft hierzulande würde Gott sei Dank Aspekte des Naturschutzes berücksichtigen.
In Finnland sei das ganz anders, wo Wälder wie Felder bewirtschaftet und komplett abgeholzt werden.
„Wissen Sie, wie lächerlich wenig ein Baum als Brennholz wert ist und wie unendlich wertvoll als Teil des Ökosystems?“, fragt sie und erklärt kopfschüttelnd: „Was Jahrzehnte oder Jahrhunderte gewachsen und Teil eines unterirdischen Netzwerks mit Pilzen oder Lebensraum für Vögel und Insekten ist, wird in zwei Minuten verbrannt.“
Apropos brennen. Bald werden wir wieder aus dem schützenden Wald in die Sonne zum Parkplatz laufen. Noch genießt Thekla Walker das kurze Eintauchen in die Natur am Neuweiher. „Das ist Detox für mich, ähnlich wie die Luft im Nationalpark“, sagt sie lächelnd. „Ich finde tatsächlich, dass die Schwarzwaldluft viel frischer ist wie in Stuttgart.“ Ich bestätige: Wald erfrischt. Besonders alter Wald. Und steinalt soll der Nationalpark noch werden. Es ist ein Projekt, das auf Jahrhunderte angelegt ist.
Umso erstaunlicher seien die Erfolge in nur zehn Jahren, lobt Walker. Diese Zeitdimensionen machen demütig, aber sie spüre auch die große Verpflichtung, die dabei mitschwingt. Viele Generationen Mensch standen schon vor der Großvatertanne, ihrem Lieblingsbaum, und deren Nachkommen sollen es weiterhin können. Sie erinnert sich, wie herrlich es für Kinder ihrer Klassen war, wenn sie raten sollten, wie alt ein Baum ist und wie groß deren Augen wurden, wenn sie ihnen das so erklärt hatte.
Wir kehren um. Die Uhr tickt. Zum Dienstwagen mit Chauffeur sind es noch ein paar hundert Meter Wegstrecke. Ein Rotkehlchen landet neben uns auf einem Baumstumpf. Überraschend angstfrei sitzt es einen Meter von uns entfernt.
Walker lächelt, ist begeistert von dessen Knopfaugen und Neugierde. Wir verharren, genießen das Du auf Du mit dem Sperlingsvogel. Ein Fotomoment wie aus dem Bilderbuch. So etwas lässt sich nicht planen, ist eben Natur.
Davon angeregt erzählt Thekla Walker von ihrem Termin im Max-Planck-Institut, von Vogelzugarten, die von Radolfzell aus telemetriert würden. Wann sie starten und wann sie wiederkehren, hänge auch vom Klima ab. Den Winter wird unser Rotkehlchen bei 37 Grad Celsius wohl noch nicht im Sinn haben, mutmaße ich. Walker lacht und kontert: „Wer weiß, viele Vogelarten haben eine viel feinere Sensorik als wir Menschen sie haben“, punktet sie, „und wer das Erdmagnetfeld oder das Firmament zur Orientierung nutzen kann, kann vermutlich auch genau erspüren, wann der Winter kommt.“ Von Hunden oder Katzen wisse man schließlich auch, dass sie Erdbeben oder Hurricanes viel früher wahrnehmen, als wir das tun, ergänzt sie.
Apropos Wetterphänomene: Ich deute auf den Himmel über dem Bodensee. Etwas braut sich zusammen. Ich bin ihr letzter Termin vor einem Kurzurlaub im Tessin. Nach Stuttgart fährt sie nicht mehr zurück. Sie wird die Nacht am Bodensee verbringen. Gleich schwimmen gehen zu können, ohne Gewitter, darauf freut sie sich.
Waldbaden im Nationalpark wäre auch eine Option, sagt sie. Der liege nur nicht auf der Route ins Tessin, wäre jedoch ein Frischekick für die Rückreise, sagt Thekla Walker und lacht.
Quelle: Nationalpark Schwarzwald Magazin [PDF] (Ausgabe Herbst/Winter 2024) Herausgeber: Freundeskreis Nationalpark Schwarzwald e. V., Interview von Agathe Paglia, freie Journalistin, Magazinautorin, Texterin