Erneuerbare Energien erfreuen sich eines noch höheren Stellenwerts als bisher, nachdem der Überfall auf die Ukraine die Abhängigkeit von russischem Erdgas offengelegt hat. Die Regierungen in Bund und Land wollen die Energiewende mit Hochdruck vorantreiben. In Baden-Württemberg ist das die Aufgabe von Thekla Walker, die Franz Untersteller nach den Landtagswahlen im vergangenen Jahr als Umweltministerin gefolgt ist. Was sich die Grünen-Politikerin konkret vorstellt, verrät sie im Gespräch mit Magazin Wirtschaft und Dr. Albrecht Reuter, dem Vorsitzenden des IHK-Energieausschusses.
Frau Ministerin, Erdgas war bisher ein fester Bestandteil der Energiewende – als Übergangs- und Regelenergie. Gefährden die Preissteigerungen und möglichen Versorgungsengpässe den Fahrplan?
WALKER: Stand heute, Anfang April, nein. Aber die Situation ist natürlich sehr volatil. Deshalb bereitet sich die Bundesregierung auf verschiedene Szenarien vor und arbeitet mit Hochdruck an einer Anpassung der Gasversorgung – zunächst mit Blick auf den nächsten und übernächsten Winter, Stichwort Diversifizierung der Gaslieferanten. Und gerade die aktuelle Entwicklung zeigt uns, dass wir deutlich schneller mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien werden müssen, die Energiewende also viel schneller kommen muss.
REUTER: Das Land soll bis 2040 klimaneutral werden – dieses Ziel zeigen sie auf einem großen Plakat vor dem Ministerium. Es stellt sich die Frage, ob ein Industrieland wie Baden-Württemberg in der Lage ist, seine komplexe Infrastruktur, die über 250 Jahre seit der Erfindung der Dampfmaschine entstanden ist, in 18 Jahren radikal umzubauen.
WALKER: Wer, wenn nicht wir, kann das schaffen? Baden-Württemberg ist als führender Industriestandort prädestiniert, diese Transformation massiv und schnell voranzutreiben. Umsetzen müssen wir es aber als ganze Gesellschaft. Die Aufgabe der Politik ist es, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen. Eine gute Nachricht ist, dass wir die Technologien bereits besitzen, um dieses Ziel zu erreichen. Jetzt geht es darum, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen und die Bausteine zusammenzusetzen, damit das System funktioniert.
Baden-Württemberg ist aber nur dann leistungsfähig, wenn seine Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Derzeit schalten wir Kernkraftwerke ab, steigen aus der Kohle aus und müssen jetzt obendrein noch nach einer Alternative für russisches Gas suchen. Überfordern die hohen Energiepreise nicht die Unternehmen?
WALKER: Betriebs- und Energiekosten sind dann am günstigsten, wenn wir einen hohen Anteil an Erneuerbaren im Gesamtsystem haben. Wir müssen dann auch wesentlich weniger Energie importieren. Das heißt, wir stellen unsere Energieversorgung jetzt schneller um, als es ohnehin geplant war. Die zentrale Frage ist nun, wie wir in den kommenden Jahren den Übergang sichern. Ziel ist ein Energiesystem, in dem wir flexibel Kraftwerkskapazitäten zuschalten können, um die so genannte Dunkelflaute auszugleichen. Diese Kraftwerke müssen kurzfristig mit Gas, langfristig aber mit Wasserstoff, betrieben werden. Atomreaktoren, die permanent Energie einspeisen, sind für dieses Energiesystem der Zukunft nicht flexibel genug.
Aktuell beschäftigt uns aber das Problem mit dem Gas...
WALKER: Auch hier kommt es darauf an, flexibler zu werden, um nicht von einzelnen Lieferanten abhängig zu sein. Wenn wir Nordstream 2 schon in Betrieb gehabt hätten, bezögen wir jetzt 70 Prozent unseres Gases aus der russischen Föderation. Deshalb begrüße ich es, wenn Robert Habeck jetzt daran arbeitet, bei den Gaslieferanten sehr schnell zu diversifizieren – im „Tesla-Tempo“, wenn Sie so wollen. Zum Beispiel sollen die ersten „Floating“-Terminals für LNG (Liquid Natural Gas, Anm. d. Red.) bis 2023 fertiggestellt werden.
Das Tesla-Tempo würden wir ja vielleicht nicht brauchen, wenn wir schon früher den LNG-Import zugelassen hätten. War es nicht Ihre Partei, die dagegen war, weil sie kein Fracking-Gas aus Nordamerika wollte?
WALKER: Meine Partei hat immer die einseitige Abhängigkeit von russischem Gas kritisiert und immer für einen deutlich schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien geworben. In den vergangenen Jahren wurden aber viele Dinge verschleppt. Dazu gehört auch der Stromtransport von Nord nach Süd, der für unser Bundesland enorm wichtig ist. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass es auch die Vision der Wirtschaft ist, dass wir in eine klimaneutrale Zukunft gehen, dass die Energiekosten sinken und dass wir in Baden-Württemberg die Marktführerschaft für die Technologien übernehmen, die dafür notwendig sind. Fracking-Gas hat natürlich erhebliche Nachteile für das Klima. Aber wir reden aktuell über eine Notlage und über eine begrenzte Zeit.
REUTER: Glauben Sie, dass wir mehr Energie im Land produzieren oder mehr importieren werden, wenn die Klimaneutralität 2040 erreicht ist?
WALKER: Ziel ist es, dass wir einen großen Teil unserer Energie wie bisher im Land selbst produzieren. Aber selbst mit fünf Atomkraftwerken war Baden-Württemberg immer ein Stromimportland, und das wird es auch in Zukunft bleiben. Deshalb brauchen wir die großen HGÜ-Leitungen wie Südlink und Ultranet. Aber auch hier gibt es massive Verzögerungen, die uns in unseren Zielen behindern. Es ist nun dringend an der Zeit, die Genehmigungsverfahren drastisch zu beschleunigen, denn mit dem bisherigen Tempo werden wir es nicht schaffen. Wir in Baden-Württemberg haben mit dem Bau des Konverters auf dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks Philippsburg schon vorgelegt – ähnliches würde ich mir von anderen Ländern auch wünschen.
Wie sinnvoll ist das Ziel der Klimaneutralität auf der Ebene eines Bundeslandes? Schließlich geht es um ein globales Problem und vielleicht ließen sich anderswo mit weniger Ressourcen mehr CO2-Emissionen einsparen?
WALKER: Letztlich hat sich die Weltgemeinschaft völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, die globale Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das ist auch eine Verpflichtung für Baden-Württemberg, die wir nicht einfach den anderen überlassen können. Wir müssen die Verantwortung für unser eigenes Handeln und unsere eigene Energieversorgung übernehmen. Ich sehe in diesem Ziel aber auch eine Riesenchance für den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg. Die Märkte orientieren sich weltweit in Richtung Klimaneutralität. Wenn wir da nicht mitgehen, bringt uns das in eine sehr nachteilige Position – denken Sie nur an die „Taxonomie“-Debatte und die Diskussionen darüber, welche Energie-Investitionen als nachhaltig anerkannt werden.
REUTER: Sie haben Recht, wesentliche Teile der Wirtschaft gehen voran und könnten das Ziel vielleicht schon 2035 statt 2040 erreichen. Sie erwarten von der Politik eigentlich nur, dass die Prozesse schneller vonstattengehen. Insbesondere müssen wir einen Weg finden, die Bürgerbeteiligung zu beschleunigen. Haben auch Sie hierzu Möglichkeiten oder müssen wir auf Herrn Habeck in Berlin warten?
WALKER: Da sind alle in der Verantwortung. In Baden-Württemberg haben wir eine Task Force eingerichtet, in der die verschiedenen Ressorts mit Hochdruck daran arbeiten, die Verfahren zum Ausbau der erneuerbaren Energien zu verbessern und zu beschleunigen. Auch Barbara Bosch, die neue Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, ist darin eingebunden. Natürlich besteht die Lösung nicht darin, auf Bürgerbeteiligung zu verzichten. Im Gegenteil: Unsere Erfahrungen zeigen eher, dass die Projekte umso besser laufen, je früher die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden und je transparenter sie gestaltet sind. Wir unterstützen dazu das Forum Energiedialog, das bei Konflikten Kommunen begleitet und allparteilich Informationen zur Verfügung stellt. Land, Landkreise und Kommunen müssen jetzt beim Ausbau der Erneuerbaren Hand in Hand arbeiten. Deshalb haben wir in jedem Regierungspräsidium eine Stabsstelle eingerichtet, um die Genehmigungsbehörden besser zu unterstützen und die Verfahren zu steuern.
Kann denn eine Beschleunigung gelingen, ohne die Mitwirkungsrechte der Bürger und Träger öffentlicher Belange einzuschränken?
WALKER: Das ist in Baden-Württemberg nicht geplant und das ist auch nicht unser Ziel. Es muss selbstverständlich weiter möglich sein, alle Belange einzubringen. Nur muss schneller geprüft und abgeschlossen werden. Deshalb wollen wir zum Beispiel, das Widerspruchsverfahren abschaffen. Es sind hier übrigens nur selten Naturschützer, die die Verfahren blockieren, sondern in vielen Fällen Vereine, die ein ideologisches Problem mit Windkraft haben und nicht unbedingt aus Baden-Württemberg stammen.
REUTER: Darf ich Sie am 31. Mai nach Birkenfeld im Enzkreis einladen? Dort startet die Gemeinde mit Hilfe der Firma Fichtner das Projekt „Smart Birkenfeld“ - ein Quartier mit vielen Technologien wie Wasserstoffproduktion, Agro-Photovoltaik und anderem, mit Neubauten und der Integration von Bestandsgebäuden. Wäre dieses Projekt nicht geeignet, einen ganz anderen Förderansatz zu erproben? Statt Förderanträge für jede einzelne innovative Technologie zu schreiben, was mühsam und in weiten Teilen unkreativ ist, könnte man uns doch Birkenfeld einfach klimaneutral machen lassen, das Ergebnis beurteilen und dafür beispielsweise pro eingesparter Tonne CO2 einen Bonus zahlen.
WALKER: Ich bin immer dafür, in Reallaboren etwas Neues auszuprobieren, und wir haben solche Konzepte auch schon gefördert. Oft werden die üblichen rechtlichen Regularien und Fördermechanismen diesen leider nicht gerecht. Dies zu ändern, liegt in der Verantwortung des Bundes, und die neue Bundesregierung ist angetreten, die Mechanismen so zu gestalten, dass sie sich nicht als Hindernis für Innovation in der Energiewende erweisen.
REUTER: Eines der Haupthindernisse bei der Energiewende ist doch, dass wir sektoral denken und handeln. An den Hochschulen gibt es die verschiedenen Fakultäten, in der Politik und in den Medien die verschiedenen Ressorts. Jetzt finden wir Ingenieure immer mehr interdisziplinäre Ansätze, die Sektorengrenzen überschreiten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Agri-Photovoltaik ermöglicht Landwirtschaft unter Solarpanels und damit eine zweifache Nutzung derselben Fläche. Gesetzgebung und Fördermechanismen beider Bereiche lassen sich aber nicht auf einen Nenner bringen, und so bleibt dieser vielversprechende Ansatz im Versuchsstadium stecken. Ähnliche Beispiele gibt es auch im Verkehrssektor.
WALKER: Sie haben Recht, das System ist nicht zielführend und muss so umgestaltet werden, dass die eine Nutzung die andere nicht verhindert. Wir sind dabei, das zu ändern. Und um auf das Beispiel Agri-Photovoltaik einzugehen: Es laufen hier konkrete gemeinsame Modellprojekte mit dem Landwirtschaftsministerium.
Das Land verfolgt eine Smart-Grid- und eine Wasserstoff-Roadmap. Was soll damit erreicht werden und wie geht es voran?
WALKER: Smart Grids sind sehr wichtig für die Flexibilität des künftigen Systems. Sie gewährleisten, dass die Energie aus erneuerbaren Quellen, die ja fluktuiert, optimal und effizient eingesetzt werden kann. Neben Effizienz, Ausbau der Erneuerbaren und Elektrifizierung ist Wasserstoff für uns die vierte Säule der Energiewende. Das größte Potenzial für den Einsatz von Wasserstoff sehen wir im industriellen Bereich; in der stofflichen aber auch energetischen Nutzung in Branchen wie Chemie, Stahl, Zucker, Zement oder Papier. Ziel unserer Wasserstoff-Roadmap ist es, dazu beizutragen, den Einsatz fossiler Energieträger in den unterschiedlichen Sektoren wie Industrie, Mobilität und Energiewirtschaft umfassend zu reduzieren und damit auch die Treibhausgas-Emissionen zu verringern. Unser Wasserstoff-Beirat, bestehend aus Expertinnen und Experten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, begleitet unsere Maßnahmen konstruktiv kritisch und dient als Anlaufstelle für alle Beteiligten.
Und wie soll es dann weitergehen?
WALKER: Ein Schritt, der jetzt so schnell wie möglich erfolgen muss, ist der Anschluss an das europäische Wasserstoffnetz, der eigentlich erst für 2035 geplant war. Ich denke, die augenblickliche Situation zeigt uns, dass wir das deutlich beschleunigen müssen. Wir haben in Baden-Württemberg über 100 Millionen Euro für das Thema Wasserstoff investiert, auch weil wir damit unsere Industrieproduktion im Land klimaneutral bekommen. Das wird ohne Wasserstoff nicht zu schaffen sein.
Wird dieser grüne Wasserstoff aus dem Land kommen?
WALKER: Es ist klar, dass Kapazitäten in Baden-Württemberg und auch Deutschland nicht ausreichen werden, um unseren Wasserstoffbedarf selbst zu erzeugen. Deshalb werden wir auch in Zukunft den größten Teil importieren müssen. Dazu streben wir Kooperationen mit europäischen Ländern wie Spanien, Schottland oder in Skandinavien an. Und wir werden auch Partnerschaften mit Ländern außerhalb Europas schließen müssen. Hierzu laufen zurzeit intensive Gespräche. Wichtig ist, dass wir uns nicht wieder von einem oder mehreren Anbietern abhängig machen.
Quelle: Magazin Wirtschaft – IHK Region Stuttgart (veröffentlicht am 19.04.2022). Die Fragen stellte Redakteur Walter Beck, als Co-Interviewer hat ihn Dr. Albrecht Reuter, der Vorsitzende des IHK-Energieausschusses, begleitet. Er ist Geschäftsführer der Fichtner IT Consulting GmbH in Stuttgart und gehört dem Vorstand der Smart Grids Plattform BW an.